Geschichten aus den vier Winden Geschichten aus den vier Winden

Geschichten aus den vier Winden

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Berlin war ein Feuerbrand von Sonne. Die Dächer der Häuser und die Fenster zitterten vor Junihitze, so wie die Hitzeluft über Steinwüsten zittert. Es war, als heizten die Scharen der Autos mit ihren Benzindämpfen die Straßen, wie fliegende Öfen. Und die Sonne schien an diesem heißen Junitag nicht von der Stelle zu wandern. Überall war Sonne, überall Höllenhitze.

Vom Stettiner Bahnhof in Berlin fuhr abends der Zug voll von Skandinaviern nach Saßnitz. Es war, als ob alle Menschen vor der deutschen Junihitze flüchteten. Das vornehme palastartige Fährboot, das in vier Stunden in der Nacht von Saßnitz übers Meer nach Trelleborg fährt, landete aber am Morgen in Schweden im flachen Schonen immer noch wie von der berliner Hitze begleitet.

Der Drang, möglichst rasch nach dem kühleren Norden zu kommen, ließ uns nirgends Halt machen. Wir, die Frau, die ich liebe, und ich, hatten uns vorgenommen, zuerst die Route an der Westküste von Trelleborg bis Strömstad zu fahren und dann nach Lappland zu reisen. Wir reisten die zwölf Stunden von Trelleborg bis zur nördlichen Grenze Schwedens an der Westküste ohne Aufenthalt, mit Ausnahme einer kurzen Mittagpause in Gothenburg, und wir waren am Abend um sieben Uhr am Ende unserer ersten Reiseroute in Strömstad angekommen.

Zweiundzwanzig Stunden trennten mich hier von Berlin, so sagte mir der Fahrplan. Aber meine Augen hatten mir unterwegs von Stunde zu Stunde gesagt: jede Stunde wird hier ein Jahrtausend, und in Strömstad trennen dich zweiundzwanzig Jahrtausende von Berlin.

Kaum stieg ich am Ende der Sackbahn in Strömstad aus, so versank ich in diese Jahrtausende wie ein Meteor, das von einem fremden Stern auf die Erde gefallen ist. Und nicht nur zwei kleine Stufen stieg ich vom Trittbrett der Eisenbahn bis zum Perron der schwedischen Erde, sondern ich war wie zweiundzwanzig Tausend Meilen tief in eine fremde Erde — bei einem fremden Meer, bei einem fremden Himmel, bei einer fremden Sonne — eingedrungen, als ich in Strömstad aus dem Waggon gestiegen war. Und ich kam nicht mehr los und saß dort bei Strömstad auf einer Insel im Meer und ließ mir neue Ohren wachsen, und soviel Haare ich sonst auf dem Kopf hatte, so viele Augen schien ich jetzt im Kopf zu haben. Mein Herz, das sonst in Deutschland im Gewohnten und Althergebrachten eingekapselt saß, flutete und löste sich und wurde wie das Herz Adams am Tag, da Gott ihm das Paradies zeigte und alle Bäume.

Die Insel, auf der ich saß, und wo ich die Reisebillette meiner anderen beiden großen Reiserouten in Schweden verfallen ließ, hieß Koster. Es ist eine Insel im Kattegat, und sie wird dreimal in der Woche von einem Dampfschiff angelaufen, das den Weg in dreiviertel Stunden von Strömstad zurücklegt und die Post bringt. Das macht aber nichts, wenn auch die Post dreimal in der Woche dorthin kommt, diese Insel ist und bleibt doch für mich immer und ewig ein Pünktchen am Ende der Welt.

Schon »am Ende der Welt« angekommen zu sein — nachdem man noch zweiundzwanzig Stunden vorher in Berlin die Automobile rasen sah —, das ist etwas Verblüffendes und Erstaunliches, und ich habe mir vorgenommen, ein ganzes dickes Buch über die Insel Koster zu schreiben. Aber mit dieser kleinen Erzählung hier will ich euch nur den Mund wässerig machen auf dieses Pünktchen am Ende der Welt, auf diese Insel, dieses Kopfkissen aller Seligkeit. Ob das Buch, das ich einmal über diese Insel schreiben will »die Königstöchter von Koster« heißen soll, oder »die Insel der heiligen Kühe«, oder »wilde Rosen, Wachholder und Urgestein«, oder »die Insel am Ende der Welt«, das weiß ich heute noch nicht genau zu sagen. Die Titel verrate ich aber hier nur deshalb, weil sie andeuten, was dort alles zu finden ist für den, der sich ein Billett nimmt und in zweiundzwanzig Stunden von Berlin hinreist und zweiundzwanzig Jahrtausende in der Zeit zurück, in der Urzeit dort ankommt.

Stellt euch meine Insel vor. Nachdem wir in Südschweden, in Schonen, aus dem Eisenbahnfenster zuerst weite Kornflächen gesehen hatten und grüne Waldzüge, aus denen die herrlichsten Buchen und die stämmigsten Eichen nah am Meer die Luft mit Blätter- und Rindenduft würzen und die reichen Gehöfte dort umwehen, verläßt uns plötzlich die weiche sinnliche Erde. Statt der runden Buchenwälder wachsen runde Granithügel auf, und von allen Bäumen bleiben nur noch die Tannen am Wege, die Birken und die Eichen. Aber der Buche, dem Ahorn, der Pappel, dem Nußbaum und der Kastanie, — allen diesen geht der Atem aus vor dem Granit, der mit rostroten Eisenadern gezeichnet ist. Das Land ist dort mit Granit gepanzert, und hinter Gothenburg beginnt eine Steinzone, wie sie sich kein Deutscher in keiner Ecke Deutschlands träumen kann, nicht in den Alpen, nicht im Riesengebirge, — nirgends; und auf meiner Reise um die ganze Erde, die ich vor fünf Jahren machte, bin ich niemals, selbst nicht am Himalaja, einer solch grotesken Steinwelt begegnet, wie die ist, die sich von Gothenburg bis nach Strömstad breitet. Am Meer ist die unterhaltendste Partie dieser Steinwelt die Station Fjellbacka, die nur eine Schiffstation ist und keine Eisenbahn hat. An der Eisenbahn aber, zwischen Gothenburg und Strömstad, ist es hauptsächlich der Umkreis um die Station Tanum; hier ist die Steinwelt derart furchtbar, daß das Land hier nicht mehr von Menschen bevölkert scheint, nicht von Tieren, nicht von Vögeln, nicht von Bäumen, sondern von gigantischen blauen und grauen Granitfiguren.

GENRE
Fiction & Literature
RELEASED
2020
3 January
LANGUAGE
DE
German
LENGTH
223
Pages
PUBLISHER
Library of Alexandria
SELLER
The Library of Alexandria
SIZE
590.1
KB

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